Zürcher Baumsubstrat 2.0

- Vom Stockholmer Modell zur Zürcher Lösung -

Zürich ist heute eine der europäischen Städte, die das Schwammstadt-Prinzip nicht nur als Vision, sondern als konkretes Bauprinzip verstehen. In einer Zeit, in der Hitzesommer, Starkregen und versiegelte Flächen die Stadtökologie immer stärker herausfordern, hat die Stadt früh erkannt, dass die Lösung nicht allein in technischen Entwässerungssystemen, sondern in der Integration von Vegetation, Substrat und Wasser liegt. Die Fachstelle Grün Stadt Zürich (GSZ) entwickelte daher gemeinsam mit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und Partnern aus Forschung und Planung das Baumsubstrat 2.0 – eine Weiterentwicklung des Stockholmer Modells, das speziell an die schweizerischen Bedingungen angepasst wurde. Das System vereint Ingenieurtechnik mit Vegetationskunde und dient als Grundbaustein für die Schwammstadt Zürich. (Quelle: Grün Stadt Zürich, Merkblatt „Baumgruben mit Baumsubstrat 2.0“, 2022)

Während das Stockholmer System auf tragfähigen Makadam-Schichten basiert, die mit organischem Feinstoff durchsetzt sind, geht Zürich einen Schritt weiter. Hier wurde das System verfeinert zu einem dreischichtigen Aufbau, der sich sowohl für unversiegelte als auch überbaubare Flächen eignet.
Die oberste Schicht (A2) besteht aus feinem, nährstoffreichem Pflanzsubstrat mit hohem Porenvolumen. Darunter folgt eine stabile Tragschicht (A1), die Luft und Wasser leitet, während die Basis (B-Schicht) als Drainage- und Verbindungsebene fungiert. Diese Schichten sind so konzipiert, dass sie den Wurzelraum der Stadtbäume miteinander verbinden – ein durchgehender, durchwurzelbarer Korridor, der unter Straßen und Plätzen verläuft und als Speicherraum für Regenwasser dient.

Diese Struktur erlaubt es, auch stark beanspruchte Straßenräume mit gesunden Bäumen zu gestalten. Das Baumsubstrat 2.0 ist tragfähig bis 80 MN/m², behält jedoch eine Luftkapazität von über 15 Volumenprozent – ein technisches Gleichgewicht zwischen Statik und Ökologie, das die Vitalität der Bäume langfristig sichert. (Quelle: ZHAW, Burkhardt et al., Aqua & Gas 10/2024)

Querschnitt durch eine Zürcher Baumreihe mit Baumsubstrat 2.0.
(Quelle: Grün Stadt Zürich, Merkblatt „Baumgruben mit Baumsubstrat 2.0“, 2022)

Vom Stockholmer Modell zur Zürcher Adaption

Das Zürcher System basiert auf den Erfahrungen aus Stockholm, erweitert diese aber um schweizerische Anforderungen an Normierung, Belastbarkeit und Hydraulik. Während das Stockholmer System auf Makadam-Schichten mit organischer Feinstoffbeimischung basiert, verfolgt Zürich einen dreischichtigen Aufbau, der modular und berechenbar ist. Die drei Hauptschichten sind wie folgt definiert:

SchichtBezeichnungZusammensetzungFunktion
A2Oberes Pflanzsubstrat45 % Schotter 8/16 mm, 30 % Blähschiefer, 15 % Landerde, 5 % EBC-Pflanzenkohle, 5 % BruchsandNährstoff- und Wurzelhorizont, hohe Wasserspeicherung
A1Unteres Tragschichtsubstrat50 % Mischgesteinsschotter (8/16 + 16/32), 25 % Blähschiefer, 20 % Landerde, 5 % EBC-PflanzenkohleStrukturstabilität, Gas- und Wasserleitung
BÜberbaubare Basis64/125 mm und 32/64 mm Schotter, 15 % Blähschiefer, 10 % Pflanzenkohle, 5 % SchwarzerdeDrainage, Lastverteilung, Luftspeicher

 

Diese Schichtung bildet einen Wurzelkorridor zwischen den Baumstandorten und erlaubt die Ausbildung zusammenhängender durchwurzelbarer Räume unterhalb der Verkehrsflächen. (Quelle: GSZ 2022)

Feldversuch mit strukturstabilen Substraten auf dem Campus Grüental (ZHAW Wädenswil).
Zwölf Versuchskammern mit unterschiedlichen Substratmischungen aus Schotter, Blähschiefer und Biokohle wurden angelegt, um den Einfluss auf Wasserhaushalt, Verdichtung und Wurzelentwicklung zu untersuchen. Die Kombination von Messsensorik, Wurzelrohren und periodischen Bonituren erlaubt eine ganzheitliche Bewertung der Substratleistung unter überbauten Flächen.

(Quelle: ZHAW Wädenswil, Projekt „Strukturstabile Substrate für die Stadtbäume der Zukunft“, 2023.
https://www.zhaw.ch/de/forschung/projekt/73562)

Schwammstadt Zürich – Regenwasser als Ressource

Das zentrale Element der Zürcher Schwammstadt ist das integrierte Regenwassermanagement.
Anstatt Niederschlagswasser über die Kanalisation abzuführen, wird es direkt in die Baumrigolen und Grünstreifen geleitet, wo es gespeichert, gereinigt und den Pflanzen zugänglich gemacht wird.
Ein Beispiel dafür ist die neu entwickelte KerbCell-Technologie – Einlaufvorrichtungen, die das Wasser aus der Straßenrinne in die Baumrigole führen. Im Sommer bleibt das System geöffnet, damit das Regenwasser in den Grünraum gelangt und zur Verdunstungskühlung beiträgt; im Winter kann es geschlossen werden, um salzhaltiges Tauwasser abzuleiten.

So entsteht ein regelbares, saisonal anpassbares System, das die Vegetation als Teil der städtischen Infrastruktur versteht. Das Schwammstadt-Prinzip wird hier zur funktionalen Verbindung zwischen Ingenieurbau und Vegetation – ein Paradigmenwechsel in der Freiraumplanung.

(Quelle: Heinrich A., Saluz A. G., Stevanović S., „Regenwasser-Management – Das Prinzip Schwammstadt“, Stadt + Grün 08/2021)

Pilotprojekt Giessereistraße – Forschung trifft Praxis

Wie dieses Prinzip in der Praxis aussieht, zeigt das Pilotprojekt Giessereistraße im Zürcher Industriequartier. Im Auftrag von Grün Stadt Zürich wurde dort eine Baumrigole mit 270 m³ Substratvolumen angelegt, die das Regenwasser einer 350 m² großen Asphaltfläche aufnimmt.
Die Grünfläche funktioniert als lineare Retentions- und Versickerungsanlage, die zugleich als durchgehender Wurzelraum für eine Baumreihe dient. Das verwendete Substrat basiert auf dem Wädenswiler Forschungsprinzip: ein grobkörniges Skelett aus Schotter (32/63 mm), Blähschiefer, Sand und aufgeladener Pflanzenkohle, darüber eine humose „Speckschicht“, die den aktiven Wurzel- und Filterhorizont bildet. Durch die Kombination von Makroporen, Pflanzenkohle und mineralischen Aggregaten entstehen ideale Bedingungen für Gasaustausch, Nährstoffpufferung und Wasserführung – entscheidend für das Überleben der Bäume in heißen Sommern. Die Vegetation wurde bewusst funktional gewählt: Salix alba ‘Liempde’, Gleditsia triacanthos ‘Skyline’ und Ulmus ‘Rebona’ repräsentieren drei Strategien für wechselnde Wasserverfügbarkeit.
Ergänzend wurden salztolerante Sträucher und trockenheitsresistente Stauden gepflanzt, die nicht nur die Biodiversität erhöhen, sondern auch als Indikatoren für die Substratentwicklung dienen. (Quelle: Stadt + Grün 08/2021; ZHAW Wädenswil, IUNR Projektberichte 2022–2024)

Bau der Schwammstadt-Rigole in der Giessereistraße (Zürich)
Die Fotos zeigen die einzelnen Bauphasen: Aushub der Rigole, Einbau des grobkörnigen Substrats mit Pflanzenkohle, Verdichtung und Einbau der KerbCell-Einläufe zur Regenwassereinleitung. Abschließend erfolgt die Pflanzung von Salix, Ulmus und Gleditsia im fertiggestellten Grünstreifen.

Forschung und Messung – das System im Test

Die ZHAW begleitet das Projekt wissenschaftlich mit Boden- und Klimasensorik. Messsonden zeichnen Bodenfeuchte, Temperatur und den Wasserfluss quer zur Straßenachse auf, während über SAP-Flow-Sensoren die Transpiration der Bäume ermittelt wird.
So lässt sich feststellen, wie effektiv das Schwammstadt-System zur Verdunstungskühlung beiträgt und wie sich Bodenfeuchte über den Jahresverlauf verändert. Bereits im zweiten Jahr zeigten sich stabile Feuchteverhältnisse auch während der Hitzewellen 2022 – ohne zusätzliche Bewässerung.
Die Bäume erreichten hohe Vitalitätswerte, und die Vegetation blieb auch in den Trockenphasen aktiv.
Diese Ergebnisse bestätigen, dass das Zürcher Schwammstadt-System Regenwasser nicht nur aufnimmt, sondern auch als Klimaressource nutzbar macht. (Quelle: Saluz A. G., Hertig T., Stevanović S., EFUF 2022 Book of Abstracts; Burkhardt et al., Aqua & Gas 2024)

Baumsubstrat 2.0 als Planungsstandard

Mit dem Merkblatt Baumgruben mit Baumsubstrat 2.0 hat Zürich einen neuen technischen Standard gesetzt. Das Dokument definiert klare Mischungen, Zielwerte und Einbauverfahren und wird inzwischen auch in den Normalien 284 (Trottoir überfahrbar) des Kantons Zürich referenziert.
Damit ist das System nicht länger ein Forschungsprojekt, sondern Teil der regulären Stadtplanung. Zürich gilt heute als Vorbild für viele andere Städte, die das Schwammstadt-Prinzip in ihre Straßenbaupraxis integrieren möchten – darunter Basel, Winterthur und Luzern, aber auch Graz und Wädenswil. Das Zürcher Modell zeigt, dass technische Präzision und ökologische Funktionalität kein Widerspruch sind, sondern sich gegenseitig bedingen. (Quelle: Kanton Zürich Tiefbauamt, „Einsatz von Baumsubstraten in der Strassenentwässerung“, 2024)

Fazit

Das Baumsubstrat 2.0 ist mehr als nur ein Pflanzsubstrat – es ist die Schnittstelle zwischen Wasser, Boden und Stadtklima. Mit Projekten wie der Giessereistraße und dem Versuchsfeld Wädenswil beweist Zürich, dass das Schwammstadt-Prinzip praktisch, skalierbar und klimaresilient umsetzbar ist. Was in Stockholm begann, hat sich hier weiterentwickelt zu einem präzise berechneten, standardisierten System, das sich zugleich den natürlichen Prozessen verpflichtet fühlt. Die Schwammstadt ist in Zürich keine Zukunftsmusik – sie wächst bereits.

Dank an das ZHAW-Team & Stadt Zürich

Ein herzlicher Dank an Andrea Gion Saluz (Stadt Zürich),  Stefan Stevanović, Alain Bertschy und Axel Heinrich (ZHAW IUNR Wädenswil) für die freundliche Überlassung von Material und den kontinuierlichen Austausch. Alle drei Erstgenannten waren Referenten bei Black2GoGreen 2024, Stefan Stevanović zusätzlich 2025.

Die ZHAW gehört zu den führenden europäischen Einrichtungen für Forschung und Entwicklung rund um Schwammstadt-Bausteine, Baumsubstrate und urbanes Regenwassermanagement – wir freuen uns über unsere enge Zusammenarbeit.

 

Wer mehr über die Arbeit der ZHAW erfahren möchte, findet hier eine Auswahl laufender und abgeschlossener Projekte: